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15.06.2022 | Hans-Jörg Werth

Virtuelle Rundumsicht

360-Grad-Besichtigungen sind in aller Munde. Digitale Prozesse werden durch clevere Geschäftsmodelle stark gepusht. Doch nicht alles geht vom heimischen PC aus.

Bildquelle: Haufe Group

Der Druck der knappen Verkaufsangebote hatte sich vor allem bei Neuaufträgen zu Beginn der Pandemie verstärkt. Verkäufer agierten in angespannten wirtschaftlichen Zeiten zunächst eher zurückhaltend. Zudem wollten sie auch keine Interessenten ins Haus lassen. Doch inzwischen ist das Thema Digitalisierung das „Neue Normal“. 360-Grad- Besichtigungen sind in aller Munde und die Videotelefonie läuft heiß. Denn der Mangel an Objekten ist ein fortwährendes Problem für Maklerunternehmen. Die Nachfrage übersteigt seit langer Zeit das Angebot. In Zeiten der Pandemiekrise ist das nicht anders, im Gegenteil werden neue Standorte wie zum Beispiel der „Speckgürtel im Speckgürtel“ – dank neuer Arbeitsmöglichkeiten im Homeoffice – spannender. Was sich ändert im Alltagsgeschäft, ist, dass die üblichen Vertriebswege des Maklers in der Corona- Zeit neu justiert werden müssen. Websites wurden neu konzipiert, Technik aufgerüstet, zusätzlich sollen E-Mail-Kampagnen und Social-Media-Aktionen den Vertrieb ankurbeln.

DYNAMIK IN DEN DIGITALEN VERKAUFSMODELLEN

Etliche Makler, Verwalter und Sachverständige haben ihren Berufsalltag und den Umgang mit den Kundinnen und Kunden optimiert und angepasst. Vermietungen laufen sogar entspannter, denn manche private Eigentümer mit Angst vor Ansteckung oder Hausverwaltungen, die zuvor die Neuvermietungen selbst übernommen haben, beauftragen nun wieder professionelle Immobilienunternehmen, ist aus den Makler- und Verwalternetzwerken zu hören. Welche Dynamik in digitalen Verkaufsmodellen liegt, weiß Roland Kampmeyer, Chef von Kampmeyer Immobilien. Der Vermarktungsprofi ist gegenüber innovativen Prozessen seit jeher äußerst aufgeschlossen und war 2020 nach eigener Aussage der erste Makler in Deutschland, der einen Besichtigungsroboter eingesetzt hat. Auch ein Marketinggag, wie er zustimmt. Der Erfolg gebe ihm allerdings recht, denn mittlerweile habe er bereits den zweiten angeschafft, im Wert von rund 8.000 Euro.

Florian Graf von Bothmer, Makler im niedersächsischen Lauenbrück
Emotionen und Lage, Lage, Lage werden heute wie morgen die erste Rolle spielen. Die potenziellen Käufer müssen begeistert werden.

FÜR DAS HOCHPREISIGE SEGMENT WENIGER GUT GEEIGNET

Kampmeyer sieht das Potenzial dieser automatisierten Besichtigungen für Kunden vor allem im Mietbereich und bei Musterwohnungen in Großprojekten mit 200 oder mehr Wohnungen. Wenn hier in der Beratung und Transparenz der Angebote ein guter, gleichbleibender Standard erzeugt werde, prophezeie er der digitalen Anmietung in den kommenden Jahren noch eine tolle Zukunft, erklärt Kampmeyer.

Anders sieht es nach den Worten Kampmeyers allerdings im klassischen Verkauf des „Einmal- im-Leben“-Hauskaufs der typischen Familie aus, noch dazu bei Preisen, diebeispielsweise in Köln inzwischen erst ab rund 800.000 Euro losgingen. Hier könne man die digitalen Tools weniger intensiv einsetzen. Dort heißt es nach Überzeugung Kampmeyers weiterhin: „Sehen, riechen, schmecken, fühlen, der Kunde muss das Objekt vor Ort buchstäblich mit Haut und Haaren erfassen.“ Jan Meyer, Geschäftsführer von Immoto Immobilien, spricht vom Drei-Stufen- Modell, das sich in der Pandemie ganz besonders bewährt habe. Für Einfamilienhäuser in guter Lage Oldenburgs seien 100 bis 150 Interessenten realistisch. Von diesen werde in Phase zwei automatisiert eine Auswahl getroffen, die bis zu 15 übrig gebliebenen Interessenten würden dann zur 360-Grad-Besichtigung per PC eingeladen.

„Wir begleiten den Interessenten per Videokonferenz zugeschaltet bei der virtuellen Besichtigung“, so Meyer. Ogulo oder Matterport als Soft- und Hardwareanbieter seien dazu in der Branche beliebte Dienstleister. Der zukünftige Käufer kann dann laut Meyer bequem vom heimischen Sofa die zuvor vom Maklerteam erstellten Rundum-Fotos am eigenen PC oder Laptop ansteuern. Das Prinzip funktioniere zudem per Helmkamera auch in Echtzeit. Der Auftraggeber steuere ihn dann quasi per Videotelefonie durch die entsprechende Immobilie, erzählt Jan Meyer. Das erzeuge einen Livecharakter.

DRUCK AUF DIE PROVISIONEN BESCHLEUNIGT DIE VERMARKTUNG

In der Phase drei sind dann, so Meyer, noch drei bis vier Kunden in der engsten Auswahl inklusive zugesagter Finanzierung der Bank. „Die Interessenten reagieren heute gerade im Kauf zur Selbstnutzung weitaus technikaffiner. Sie informieren sich, so weit es geht, zunächst vorab von zu Hause“, ist die Erfahrung Meyers. Ein äußerst nützlicher Nebenffekt sei somit, dass sich der gesamte Verkaufs- und Vermietungsprozess enorm beschleunige. Ist damit das praktizierte Geschäftsprinzip bekannter Online-Makler mit früh erprobten digitalen Prozessen wie Homeday oder McMakler im Vorteil? Angesichts des Drucks auf Provisionen könnte diese beschleunigte Vermarktung bei „Standardimmobilien“ oder im Massengeschäft zum neuen Normal werden.

Manche Branchenkenner erwarten gerade für Strukturmakler wie Franchisegeber oder Sparkassen mehr Gegenwind am Markt. Auch die Provisionen stehen unter Beschuss. Verkäufer und Käufer müssen beispielsweise bei Homeday mit je 1,95 Prozent des Kaufpreises eine deutlich niedrigere Provision als marktüblich zahlen. Das eigentliche Problem der Maklerbranche scheint kurz- und mittelfristig jedoch nicht das Verkaufen zu sein (Nachfrager gibt es viele), sondern der Wettbewerb um Aufträge. Niedrige Provisionen sind nicht wirtschaftlich tragbar für die klein- und mittelständisch geprägte Maklerszene und würden lediglich zum Outsourcen von Dienstleistungen führen, die dann extra bezahlt werden müssen. Die verbandsorientierte Maklerszene ist skeptisch, wenn an der Preisschraube gedreht würde. McMakler, einer der wachsenden Online-Makler, setzt auf schnelle digitale Prozesse und gleichzeitig auf qualifiziertes Fachwissen vor Ort, ein Hybrid- Modell, das nach dem Geschmack von Jan Mettenbrink ist – auch wenn sich der Geschäftsführer der Maison Immobilien GmbH nicht mit dem aus Print und TV für kostenfreie, unverbindliche Immobilienbewertungen bekannten bundesweiten Anbieter vergleichen möchte. Er beneide die Maklerketten im Netz lediglich um teils enorme Marketingetats, die flächendeckend Werbung unters Volk bringen. Netzwerker Mettenbrink verfolgt die Chancen der Digitalisierung im Maklergeschäft mit hoher Konsequenz und hat die aktuelle Lockdown-Phase für den weiteren Ausbau genutzt. Die Notwendigkeit forcierter digitaler Prozesse sei durch die Pandemie bei den meisten Maklern nun mit Nachdruck angekommen, weiß der Fachausschuss-Vorsitzende der Maklerinnen und Makler des Immobilienverbands IVD im Norden.

Fakt bleibt nach der Meinung von Mettenbrink, dass digitales Wissen die Geschäftsprozesse zwar beschleunigen kann, am Ende im Wettbewerb aber die wie in seinem Fall über Jahrzehnte erworbene Fachexpertise am eigenen Standort und ein dazu passendes hochqualifiziertes berufliches Netzwerk gewinne. Die Situation der Kontaktbeschränkungen habe allerdings dazu geführt, dass man als Qualitätsmakler viele Tätigkeiten noch intensiver vorbereitet habe, bevor es zum physischen Kontakt gekommen sei. „Der Makler wird unsichtbarer“, so Mettenbrink. 3D-Rundgänge und Co. ja, aber letztendlich müssten die potenziellen Käufer begeistert werden, und das geht für Makler Florian Graf von Bothmer – Pandemie hin oder her – nur in der realen Welt. „Emotionen und Lage, Lage, Lage werden heute wie morgen die erste Rolle spielen“, so von Bothmer. Der Makler aus dem niedersächsischen Lauenbrück ist stolz auf seine Heimatregion und erfährt wie viele seiner Kollegen in diesen Tagen deutlichen Zuspruch. Stadtflucht lässt grüßen.

KRISE SCHAFFT NEUE MÖGLICHKEITEN

Von Bothmer sieht die 360-Grad-Besichtigungen vor allem als geeignetes Instrument, um den Verkäufer nachhaltig zu beeindrucken. Ein Trend, der bereits lange vor Corona eingesetzt habe und der in der Vermarktung unter eingeschränkten Pandemiebedingungen gerade recht gekommen sei. Wie die Krise neue Möglichkeiten eröffnet, zeigt die clevere Marketingidee des Unternehmens Pistoor Immobilien. Inhaber Arne Pistoor aus Westerstede hat die Pandemie (und geschlossene Geschäfte) als Anlass genommen, der heimischen Wirtschaft seine Expertise kostenlos für 360-Grad-Rundgänge zur Verfügung zu stellen. Im Ergebnis habe sich eine für alle bereichernde Win-win- Situation ergeben, da Gewerbebetriebe und Kunden vom gemeinsamen Austausch und neuen Einblicken profitieren würden, sagt Arne Pistoor.
Als Mitglied des Wirtschaftsforums Westerstede hat der regionale Makler seine 3D-Erfahrungen gezielt eingesetzt. Vom Eisbäcker über das Autohaus, die Gastronomie bis zum Blumenladen habe die Auszubildende Kira Süsens mit der Kamera hinter die Kulissen geschaut, getreu dem Motto: „Wir sind auch noch da, trotz Krise.“ Und Pistoor sagt: „Wir zahlen damit zeitgleich positiv auf das Konto Eigenmarketing ein.“